Vor langen Jahren entdeckte ich im Tunnelanfang der U4 Station Kettenbrückengasse einen Clown. Eine Clownpuppe, um genau zu sein. Sie hing, an der Mütze aufgeknüpft, von einem Rohr, zwei, drei Meter im Tunnel drin. Es war ein weißer Clown, ein Pierrot, wenngleich der lange Aufenthalt im Tunnel ihn bereits zu einem grauen Clown gemacht hatte.
Man sah den Clown am besten kurz bevor man am gegenüberliegenden Bahnsteig die Treppe hochging. Weiter hinten am Bahnsteig war er zu weit weg, sein graues Trauergewand zu sehr den Tunnelwänden angepasst. Weiter oben verzerrte das alte, sich leicht wölbende Glas der Treppenfenster den Blick, so daß man schon genau hinsehen musste. Und von dem Bahnsteig aus, an dessen Seite er hing, musste man schon direkt in den Tunnel hineinschaun.
Ich weiß nicht mehr wann genau ich den Clown das erste Mal sah, aber von da an war er immer da. Wann immer ich bei der Station ausstieg und zum Naschmarkt raufging, mein Blick, kurz vor der Treppe, ging immer zum Clown. Um zu sehen, ob er noch da war. Mich kurz zu wundern, wer ihn da hingehängt haben könnte. Mit dem Gefühl zu schmunzeln, vielleicht der einzige zu sein, der ihn entdeckt hatte.
Der Pierrot hing dort Jahre. Er war ein Mysterium, ein Rätsel, umso reizvoller weil es keine Antworten geben konnte. Wen hätte man schon fragen können, was es mit dem Clown im U-Bahntunnel auf sich haben könnte? So malte ich mir Geschichten aus, wie er denn dort hingekommen sein könnte, eine fantastischer als die andere, und sie alle zu banal um hier niedergeschrieben zu werden. Schwelgte in der Ungewißheit, in diesem kleinen Stück Märchen, Stück ... Magie, das diese Stadt nochmal wundersamer machte.
Heute war der Clown nicht da. Ich weiß nicht, wie lange er schon nicht mehr da ist. Ich hab das Gefühl, schon einmal bemerkt zu haben das er fehlt, aber habe es vielleicht vergessen. Oder verdrängt? Es fühlt sich an, als wäre mit dem Clown ein Teil meines Lebens gegangen, ein Teil meiner Stadt, ein Teil meiner selbst. Die Stadt ist etwas ärmer geworden, ohne Clown.
Den Kopf voller Clowngedanken komme ich nach Hause, in die Geekcave, in meine WG. Als ich den Schlüssel ins Schloß stecke erinnere ich mich: Heute ist der Tag, da Gabriel und Manuel ausziehen. Es versetzt mir einen kleinen Stich, ein Teil von mir hofft sie noch beim Packen, beim Ausziehen zu erwischen. Doch die Zimmer sind schon leer.
Vor eineinhalb Jahren, im Sommer 2011, bin ich hier eingezogen. Eine WG, gegründet von Informatiker*innen, von Fachschaftsmenschen, von Geeks. Eine Geekcave. Schmunzelnd erzählten wir, wie wir dir Domain vor der Wohnung, den Heimserver vor der Waschmaschine hatten. Eine spannende, aufregende Zeit, in der ich mich neu erfunden habe. Oder gefunden. Die Wohngemeinschaft kam aus der Notwendigkeit, ich hatte meine Beziehung beendet, meinen Job verloren, und konnte mir somit dir vormals gemeinsame Wohnung nicht mehr leisten. Andere wollten von Zuhause weg, oder aus dem Studentenwohnheim.
Man fand sich, man fand eine Wohnung.
In dieser kurzen Zeit hat sich mein Leben völlig gewandelt. Neue Menschen, neue Lieben, neue Schmerzen, neue Narben. Ich habe festgestellt wie gut es mir gehen kann, und wie schlecht. Ich habe gelernt wie toll ich sein kann, und wie furchtbar. Wie gut mir Menschen tun können, und wie weh. Und in diesen Erfahrungen, um sie herum, und über ihnen, war immer die Geekcave. Das Zuhause, zu dem ich zurückkehrte. Die Höhle, in die ich mich verkroch. Das Gefängnis, aus dem ich floh.
Jetzt ist sie bald ganz vorbei. Geschichte. Weg. Wie der Clown. Eine Anektdote, die man erzählt, mal amüsant, mal traurig, aber immer vergangen.
Ich sitze hier, in dem was noch mein Zimmer ist, und fühle mich losgelöst. Treibend. Als wären der Clown und die WG Anker, die mich in stürmischer See an Ort und Stelle gehalten hatten und jetzt auf einmal fehlen würden.
Wie passend, daß ich gerade überlege, wie es mit mir weitergehen soll. Wie passend, daß ich mich frage, was mich eigentlich in Wien hält. Wie passend, daß es mich eigentlich woanders hin zieht.
Doch bei allem Umbruch, bei allem Fernweh, bei aller Sehnsucht, wünschte ich mir doch lieber wieder den grauen, traurigen Clown an das trostlose Rohr am finsteren Tunneleingang. Wünsche mir dieses kleine Stück Magie zurück, diese kleine, letzte Illusion der Beständigkeit.