Narbenerinnerungen

Mo 12 November 2012
By Aaron

(Ich weiß, ich weiß, eigentlich sollte es mit KIF Geschichten weitergehen. Und ein lieber Mensch hat sich auch einen Schwank aus meinem Leben gewünscht, aber da ist mir aktuell gerade keiner eingefallen. Darum schreibe ich stattdessen über was das mir gerade im Kopf herumgeistert.)

Wie die meisten von uns trage auch ich meine Sammlung an Narben mit mir herum. Spuren der Vergangenheit. Ich mag meine Narben, selbst die Unschönen, denn sie erzählen eine Geschichte. Meine Geschichte.

Am liebsten sind mir die äußeren, über die ich mit den Fingern fahren kann, die man sieht und spürt, während ich mir ihre Entstehungsgeschichte wieder in Erinnerung rufe.

Wie die Narbe auf meinem Zeigefinger, hinterlassen von dem japanischen Küchenmesser meines Vaters. Er hatte es an dem Tag frisch geschliffen, eine langwierige, meditativ wirkende Prozedur, bei der er die Klinge von Hand an immer feiner werdenden Natursteinen schärfte.

Zuerst der ganz Grobe, dann der Mittelgrobe, dann die zwei Feineren. Die Steine wurden, wenn sie nicht verwendet wurden, in einem Kübel mit Wasser gelagert um nicht auszutrocknen. Zufrieden mit der Schneide trocknete er die Klinge ab, ölte sie ein um sie vor Rost zu schützen und "puderte" sie mit einem mit Pulver gefüllten Seidenquastl, wie kleine Samuraischwerter.

Nach so einer Behandlung war das Messer wahnsinnig schön und wahnsinnig scharf. Ich weiß nicht mehr, warum ich gerade damit die altbackene Semmel schneiden wollte. Woran ich mich aber erinnere ist der erste Gedanke, nachdem mir die Klinge an der Semmel abgerutscht und über den Zeigefinger gefahren war: "Oh, Glück gehabt, blutet ja garnic...". In dem Moment klappte die Wunde dann auf und ich hörte kurz auf zu denken.

(Ich hatte Glück, keine Sehne war verletzt. Nur eine schöne Narbe ist geblieben.)

Um manche Narben tut es mir sehr leid, wenn ich merke, wie sie mit den Jahren verblassen. Das fühlt sich dann immer an wie vergessen, als würde ein Teil meiner Geschichte einfach ... verschwinden.

Wie die Narbe auf meiner Wange, rechts, knapp unterm Brillenrand. Ihre Entstehung hab ich nur erzählt bekommen, doch auch an diese Geschichte denke ich mit einem Lächeln. Ich war noch klein, ein paar Jahre alt höchstens, lang vor der Volksschule. Ich konnte aber auf jeden Fall schon laufen. Wir waren bei meiner Großmutter väterlicherseits zu Besuch, wie wir es damals öfters waren.

(Inzwischen sind all meine Großeltern schon länger verstorben, die Eltern meines Vaters zuallererst. Ich kann mich leider nur noch vage an sie erinnern. Verblassende Erinnerungen von köstlichen Malakovtorten; selbstgestrickten Pullovern, die klein-Aaron immer zu kratzig waren, und einem alten, furchtbar harten Ausziehsofa.)

Meine Großmutter hatte damals einen Hund, eine große, braune Dogge. Auf allen Vieren in etwa so groß wie ich damals. Großmutter hatte mehrere Doggen und ich bringe sie immer durcheinander, ich kann also nicht mehr sagen ob es die Dogge war welche in die mündliche Überlieferung meiner Familie eingegangen war als heimliche Verschlingerin ganzer Torten oder Berge von Schitzeln. Fakt ist, diese Dogge war ein liebes, herzensgutes Wesen. Klein-Aaron fand das auch. Klein-Aaron liebte diesen Hund heiß. Und Klein-Aaron wollte ihr das zeigen, auf die einzige, ungeschickte, tollpatschige Art wie er es damals wusste: Indem er zu ihr hintrappste, sie umarmte und, voller Liebe, in die Schnauze biss.

Das mir von diesem fehlgeschlagenen Liebesbeweis nur eine winzige Narbe blieb zeigt, was für ein zahmer Hund diese Dogge war. Konfrontiert mit einem Gnom, der ihre Schnauze als Kauspielzeug mißbrauchte, zuckte sie nur zurück und erwischte mich dabei mit einem ihrer Fangzähne an der Wange.

Ein kleiner, unscheinbarer Kratzer, eine fast verblasste Narbe, eine schöne Geschichte. Ich werde diese Narbe vermissen, um sie trauern, wenn sie einmal ganz verschwunden ist.

Ich trage noch andere Narben mit mir. Unnötige, wie der Abdruck des heißen Feuerzeugblechs auf meiner rechten Hand; Unbekannte, wie die haarlose Linie durch meine linke Augenbraue von der ich nicht weiß woher sie kommt; und Versteckte, wie die Ritzspuren auf meinem linken Arm.

Sie alle sind Spuren, die mein Leben auf mir hinterlassen hat, Zeugnis meiner Entscheidungen und der Entscheidungen Anderer. Sie sprechen zu mir, erzählen ihre Geschichten, machen sie sichtbar, fühlbar.

Machen sie wahr.